„Ein Kunstwerk ist meiner Meinung nach nur dann interessant, wenn es eine spontane und direkte Projektion dessen ist, was sich im Inneren einer Person abspielt...lch glaube, class wir nur in dieser'art brut' den naturlichen und normalen Prozess kunstlerischen Schaffens in seiner reinen und elementaren Form finden konnen."
Das schrieb der franzosische Kunstler Jean Dubuffet in einer seiner zahlreichen Schriften, denn der vor 110 Jahren in Le Havre Geborene war nicht nur Maler, Bildhauer und Aktionsartist, sondern auch ein sehr guter Schreiber, dessen Texte allerdings erst relativ spat gewurdigt wurden. 1947 grundete Dubuffet, seiner in diesem Satz ablesbaren Uberzeugung gemaf3, zusammen mit dem Surrealisten Andre Breton (unter anderem) die „Compagnie de I'art brut", die es sich zum Ziel setzte, Werke eben jener Kunstrichtung, die Dubuffet als alternative, subversive Kunstform jenseits der bekannten kulturellen Pfade definierte, zu sammeln und auszustellen. Damit meine er, betonte Dubuffet in dem als eine Art Manifest geltenden Katalog zu der 1949 gezeigten, uber 200 Arbeiten umfassenden Ausstellung „Art brut prefere aux arts culturels", dass nicht alle psychopathologischen Schopfungen gleich art brut (und umgekehrt) seien. „Wir sind der Ansicht, dass die Wirkung der Kunst in alien Fallen die gleiche ist, und class es ebenso wenig eine Kunst der Geisteskranken gibt wie eine Kunst der Magenkranken oder der Kniekranken."
Bereits ein Jahr zuvor hatte der Verein 120 Zeichnungen des Schweizers Adolf Wolfli gezeigt, eines bildenden Kunstlers, Komponisten und Schriftstellers, der nach einer reichlich verkorksten Kindheit und Jugend im Alter von 26 Jahren wegen Vergewaltigung ins Zuchthaus und dann mit der Diagnose „Schizophrenie" in eine Nervenheilanstalt wanderte, wo er in den unterschiedlichsten kunstlerischen Bereichen ein umfangreiches Oeuvre schuf. Dessen Wert entdeckte sein Psychiater Walter Morgenthaler, der 1921 daruber das Buch „Ein Geisteskranker als Kunstler" veroffentlichte. 1972 in Kassel war Wolfli auf der documenta 5 das Musterbeispiel im Bereich „Bildnerei der Geisteskranken".
Wolflis Arbeiten verkorperten fur Dubuffet mustergultig jene von jeglichem uberfeinerten Raffinement freie, das Innerste spontan und direkt expressiv nach auBen kehrende, manchem vielleicht gerade deshalb allzu krude Kunst. Wahrscheinlich war es gerade dieses Krude, das mich gleich beim Betreten dieser Ausstellung mit Arbeiten von Jacki Marechal am Freitagabend beinahe automatisch an Dubuffet denken lief3. Die grof3en, flachigen Gesichter, die mich da von allen Seiten fixierten, grof3augig, -nasig und -mundig, Gesichter meist weiblichen Charakters und en face gemalt, mit wenigen Strichen auf die Leinwand oder das Papier geworfen. Der Eindruck des Kruden, der Beschrankung auf das Notwenigste wurde noch verstarkt durch die haufig dominierende, weitgehende Reduktion auf grafisches Schwarz und Weif3, schwarz die kraftigen, wie mit einem besonders dicken Stift fast kindlich gezeichneten Konturen. Und ein drittes Element kam hinzu: Diese Gesichter tauchen zwischen, vor und hinter Mauern auf bzw. beinhalten these gar.
Ja, meinte Marechal bei unserem Gesprach, mit Dubuffet habe er sich intensiv beschaftigt, das sei auch derjenige in der franzosischen Kunst, mit dem er sich am meisten geistesverwandt fuhle. Und bei den Motiven fasziniere ihn eben besonders der Mensch, der von Mauern, von seiner selbst geschaffenen Landschaft, sprich: der Stadt umgeben ist. Dabei sind die Bilder von einer realistischen Darstellung der Grof3stadt weit entfernt. Stadt taucht allenfalls silhouettenhaft, andeutungsweise, nirgendwo zu verorten auf, ein schwebendes, labyrinthisches Niemandsland mit ihrerseits ohne Rucksicht auf Proportion und Perspektive eingebrachten Gesichtern.
Das verbindet sie nicht nur mit den Kunstlern der art brut, sondern auch mit den Graffiti-Sprayern, die ihre mehr oder minder kunstvollen Spuren hinterlassen, mit Vorliebe naturlich im stadtischen Raum. Die damit einem dem Menschen immanenten Urinstinkt folgen - denken Sie nur mal an die Felsritzungen und -Zeichnungen der prahistorischen Kunst (Frage ware, ob dieser Begriff hier iiberhaupt angebracht ist?) -, Spuren zu hinterlassen, Spuren, die einerseits seine Anwesenheit dokumentieren (wie etwa mit den Handen in den Grotten von Pechemerle), andererseits aber wohl auch sein Bedurfnis, Berichte von Erlebnissen, Ereignissen, moglicherweise auch solchen ubernaturlicher Art, zu vermitteln in einer gerade wegen ihrer vermeintlichen Schlichtheit allgemein verstandlichen Sprache.
Graffitis, die sich ihrerseits vorzugsweise auf Mauern finden. Mauern, erklarte Jacki Marechal im Gesprach, faszinierten ihn tatsachlich seit langem, alte Mauern vorzugsweise, wie es sie nicht nur in Lyon, wo er etliche Jahre lebte, gebe. Mauern, die einer Art Baumkuchen gleichen, weil sie wie dieser aus zig-verschiedenen Schichten bestehen, die sich im Lauf der Jahre, Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte ubereinander abgelagert haben. Sie alle kennen sicher solche Mauern, unendlich oft geflickt, gemauert aus verschiedensten Steinen, mit Mortel immer wieder zusammengestoppelt, hundertmal neu verputzt und gestrichten und am Ende vielleicht gar noch mit haufig wechselnden, aber nie entfernten Plakaten zugekleistert.
Etwas von der Struktur, vom Ungehobelten, Groben dieser Mauern eignet auch den Bildern Jacki Marechals, die ihrerseits ahnlich, Schicht um Schicht wachsen, immer im Dialog mit dem Kunstler, der, wie er sagt, letztlich nur auf das reagiert, was da spontan Gestalt annimmt. Da wird dann eben beispielsweise aus einer sich ergebenden langlich-ovalen Form ein Fisch mit weit aufgerissenem Maul, der in Kombination mit einem weiblichen Gesicht erst recht sein Potenzial als Fruchtbarkeitssymbol, das er auch im Christentum ist, entfaltet. Oder eine sich ergebende Linie wachst sich aus zur Schlange, die sich da plotzlich sehr greifbar uber die Leinwand schlangelt und bei der wir naturlich fast automatisch an die Schlange denken, die als Inkarnation des Bosen Eva dazu verfuhrte, den verhangnisvollen Apfel vom Baum der Erkenntnis zu pflucken und auch noch ihren Adam dazu verfuhren, mal in ihn hinein zu beif3en. Und wenn wir schon bei Eva und bei dem Bosen sind: Beide finden sich quasi in Gesichtsgestalt im gleichen Bild wieder, einmal als weibliches Gesicht und einmal als schlicht und einfach teuflisch verzogene Grimasse mit gefletschten Zahnen.
Um these religiosen Implikationen sei es ihm beim Entstehungsprozess dieser Bilder nicht oder zumindest in erster Linie gegangen, meint Marechal dazu. Aber es seien Implikationen, die er zulasse, die einfach zum menschlichen Dasein gehorten, zu den Polen, zwischen denen sich menschliches Leben abspiele. Da stehen nun mal Leben und Lieben auf der einen und Tod und Leiden auf der anderen Seite, das Helle und das Dunkle, Empfindungen, Gefuhle, quasi die psychologische, die emotionale, die innere Grundausstattung eines jeden.
Erinnern wir uns an die Dubuffetsche Definition von „art brut" als Kunst, die spontan und direkt das Innere eines Kunstlers nach auBen kehrt, dann entsprechen dem auch die Bilder Jacki Marechals perfekt. Bilder, die trotzdem keine Reproduktion Dubuffetscher Schopfungen sind, sondern in denen noch etliches mehr aus der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts anklingt, von den abstrakten Kompositionen Miros bis zu den Frauenbildern eines Picasso oder eines Matisse. Marechal leugnet these Anklange nicht, das habe man wahrend des Studiums halt regelrecht internalisiert, das kame deshalb immer wieder hoch, unter- und unbewusst. Ich bin uberzeugt: Wenn Sie sich die Bilder jetzt nun daraufhin noch einmal genau anschauen, werden Sie vielteicht noch mehr und ganz andere Spuren entdecken, je nachdem, was angesichts dieser Gesichter aus ihrem Unterbewusstsein auftaucht.
Dr. Lieselotte Sauer-Kaulbach